Montag, 20. Mai 2013

Wenn die gute Erinnerung einen Kratzer bekommt

In Georgien fand, wie in sehr viel anderen Ländern auch, am 17.Mai eine friedliche Demonstration für die Recht von Homosexuellen statt.  Es ging, im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern, nicht gut aus. [Einen Bericht mit Videos findet ihr hier] 
Dies hier ist kein Reisebericht und auch kein lockig-flockiger Erfahrungsbericht, sondern eher meine erschrockenen Gedanken über das, was gerade in Georgien geschah und geschieht. Es ist ein subjektiver Text, ich war nicht vor Ort und habe keine ausführliche Recherche betrieben. Trotzdem freue ich mich, wenn ihn ein paar Leute lesen.
Ich erwähne ab und an, dass ich nach dem Abi ein Jahr lang in Georgien gelebt habe. Wenn mich Leute dann fragen, was für ein Land Georgien so ist, antworte ich meistens zuerst mit der Warnung, dass ich nicht objektiv über Georgien reden kann. Nach dieser Warnung schwärme ich dann ganz subjektiv vom guten Essen, dem vielen Wein, den gastfreundlichen Leuten, den schönen Buchstaben, der Warmherzigkeit, der atemberaubenden Berge, der schönen Architektur in Tiflis und Ähnlichem. Das sind eben typische Themen, die man in einem ersten Gespräch erwähnt. In den letzten Wochen habe ich allerdings auch oft auf tiefergehende Art über Georgien gesprochen: die meistens meiner Freunde in Jena wissen (ob sie wollen oder nicht) mittlerweile schon all diese grundsätzlichen Dinge über Georgien. Wenn man tiefergehend über ein Land redet, kommen oft auch Themen wie Religion, Politik und ganz allgemein Gesellschaft zur Sprache.

Nun ist es natürlich mittlerweile schon über ein halbes Jahr her, dass ich in Georgien „lebte“. Selbst letzten Sommer, als ich einigermaßen den Gesprächen auf Georgisch folgen konnte, als ich seit fast einem Jahr zumindest die offensichtlichen Geschehnisse in Tbilisi miterlebt hatte, fiel es mir schwer, wirklich allgemeingültige Aussagen über die Art zu treffen, wie die georgische Gesellschaft funktioniert. Schließlich war ich immer noch auf vielen Ebenen Gast in diesem Land: Ich habe nie länger als ein paar Tage in einer georgischen Familie gelebt, ich musste nie von einem georgischen Gehalt leben, ich hatte mich nie an die Regeln georgischer Eltern halten müssen und ich hatte natürlich immer im Hinterkopf, dass ich nach einem Jahr wieder nach Deutschland ziehen würde (so schwer mir das letzten Endes auch gefallen ist). Es war also schwierig für mich, gerade politische Geschehnisse in Georgien zu beurteilen, obwohl ich vor Ort war.
Noch viel schwieriger fiel mir dies, sobald ich wieder in Deutschland war. Dabei bot mir Georgien sofort, nachdem ich es verlassen hatte, einiges an politischen Geschehnissen, welche mich sehr verwirrten und teils verängstigten: Ein Folterskandal, Demonstrationen vor der Wahl, dann der Siegder Opposition. Ich saß in Deutschland und versucht fieberhaft, die wenigen deutsch- oder englischsprachigen Nachrichten zu lesen und einzuordnen. „Was geschieht da nur in meinem geliebten Georgien?“ In den folgenden Wochen beruhigte sich die Situation, im Laufe des Winters rutschen die Georgien-Nachrichten in meiner Lesezeichen-Leiste in die Versenkung. Es ist nicht so, dass mein Interesse an Georgien nachließ, aber es gab eben auch viel anderes zu tun.

Im März konnte ich dann spontan und überraschend für eine Woche nach Georgien zurückkehren. Natürlich fragte ich einige Leute dort, was seitdem geschehen ist, erhielt aber nur wenige Antworten – die meisten meiner georgischen Freunde sind eher unpolitisch.

Dann kam der 17.Mai und ich wurde in den Gedankengang „Was geschieht da nur in meinem geliebten Georgien?“ mit einer Gewalt zurückkatapultiert, die ich nicht erwartet hatte. Wie auch im letzten September erfuhr ich ganz nebenbei bei Facebook, dass das irgendwas los ist, was nicht gerade gut ist. Ein paar Tage zuvor noch argumentierte ich in einer Diskussion, dass Gläubige ihren Glauben meiner Meinung nach an ihren religiösen Stätten ausleben dürfen, wie sie wollen. Am 17.Mai vormittags erzählte ich einer Freundin davon, dass der georgische Patriarch (also das Oberhaupt der georgisch-orthodoxen Kirche) Homosexualität nicht anerkennt. Der Zusammenhang war, dass wir über Clubs und Nachtleben in Osteuropa redeten und ich erklären wollte, warum es meines Wissens nach nur ein oder zwei Clubs in Tbilisi gibt, wo man öffentlich Schwule und Lesben sieht.
Als ich nach diesem Gespräch zu Hause über meine facebook-„Timeline“ scrolle, wird mir auf unangenehme Weise klar, dass die geringe Auswahl an Clubs momentan das geringste Problem der Homosexuellen und deren Unterstützer in Georgien ist.

Während nämlichen in unzähligen anderen Staaten auf der ganzen Welt Menschen friedlich und weitgehend ungestört gegen die Diskriminierung von Homosexuellen demonstrieren, stellt sich den etwa 50 Aktivisten in der Hauptstadt Georgiens ein christlicher Mob aus Tausenden von Menschen entgegen. Mit „entgegenstellen“ ist hierbei leider keine friedliche Gegendemonstration, sondern eine regelrechte Hetzjagd gemeint.
Ich weiß, dass der orthodoxe Glauben in der georgischen Gesellschaft eine große Rolle spielt und Traditionen dort noch (?) viel wichtiger sind als in Mitteleuropa. Eine solche Aktion hätte ich trotzdem niemals erwartet. Wieder mache ich mich auf die Suche nach möglichst vielen Quellen, will mir auf irgendeine Art ein objektives Bild machen, frage Deutsche und Georgier, die vor Ort sind. Die allererste Antwort, die ich erhalte, schockiert mich nur noch mehr:
Sie kommt von einer ehemaligen Schülerin vor mir, 16 Jahre alt, die letztes Jahr für drei Monate in Deutschland zur Schule gegangen ist. Ich weiß aus dem Unterricht und auch von privaten Gesprächen, dass sie der traditionellen georgischen Gesellschaft durchaus kritisch gegenüber eingestellt ist, weswegen ich sie frage, ob sie an der Demonstration teilgenommen hat. Ihre Antwort (nicht korrigiert):
Heute geschah eine sehr schreckliches Sache. Ich schäme mich dass ich aus Georgien komme. Das war etwas unglaublich. Meine Mutter hat mich nicht gelassen dort zu gehen, weil es zu gefährlich war. Aber eine Freundin von mir war dort und sie fühlt sich sehr schlecht. Sie ist rechtzeitig im Bus aufgestiegen, als diese böse Menschen durch Schwelle von Polizei gelaufen sind. Sie haben geschimpft und wollten den Aktiwisten schlagen. … Also, die meiste Jugendliche denken dass die Kirche recht hat und dass in Georgien sowass nicht passieren darf, weil wir ein orthodoxisches Land sind. Meine Klassenkameraden und auch maine Schwester denken so und das ist schrecklich. Einige meine Bekannte sind gestern von ihre eigene Freunden geschlagen, weil sie ihnen im Fernsehen gesehen haben und fragten warum sie die Rechte von LGBT Aktivisten schützen.“
Genau diese Freundin von ihr schreibt mir kurz darauf:
„mir geht es leider nicht so gut. Ich bin auch erschrochen. Die Menschen wollten uns töten. Jezt kennen uns auch einigen in der Strasse...Du weiss ja, was für Tag 17. Mai ist... Wir wollten nur ein Flashmob machen, 10 Minuten stehenbleiben in der Rustaweli Strasse und mit dem Hemden Regenbogen machen, aber die Leute wissen nicht, was das bedeutet. Unser Patriarch hat gesagt, dass wir das nicht dürfen... Wir wollten nur gegen Homophobie kämpfen...Danke für deine Achtung“
Eine Masse aus Tausenden von fundamentalen Christen, die (unter anderem) 16-jährige Mädchen durch die Straßen jagen, weil sie aus Tshirts einen Regenbogen bilden.

Diese Geschehnisse und Berichte haben mich in Bezug auf die Beantwortung der Frage „Was für ein Land ist Georgien?“ sehr erschüttert. Wieder muss ich betonen, dass ich unglaublich schwer einschätzen kann, wie es in Georgien gerade zugeht. Dass Georgien ein wunderbares Land ist, würde ich momentan wohl nicht mehr so direkt antworten. Zwar geht es hier um ein einzelnes Ereignis, doch wenn Tausende Leute auf die Straße gehen, kann es sich nicht um eine spontane und einmalige Aktion handeln. Noch vor einem guten halben Jahr sind in Tbilisi die Massen für Demokratie und Modernisierung auf die Straßen gegangen, motiviert durch die politische Opposition. Diesmal ging es um Diskriminierung und reaktionäre Ideen, aufgehetzt durch dir christlichen Machthaber.

Die Georgier waren zu mir ausschließlich warmherzig, unglaublich gastfreundlich, haben mich herzlich willkommen geheißen und mir jederzeit bei allem geholfen. Allerdings habe ich auch nie für die Rechte der Homosexuellen demonstriert oder etwas allzu Kritisches über die orthodoxe Kirche gesagt.